Leserbrief

Manches lädt mich ein, das „Manifest für Frieden“ zu unterzeichnen. An erster Stelle steht die Gewissheit, dass ein Atomkrieg verheerende Folgen haben würde, den Tod der Menschen, die ich liebe, eingeschlossen. Aber auch das Leid der Menschen, die im Krieg Russlands gegen die Ukraine sterben oder verletzt werden, möchte ich sofort beenden, wenn ich es denn könnte.

Ich habe immer in der Hoffnung gelebt, dass der Krieg, diese Geißel der Menschheit besiegt werden kann und in den vergangenen Jahrzehnten gab es einige ermutigende Zeichen dafür, dass es möglich ist: Das Ende des Vietnamkrieges mit der großen militärischen Niederlage der USA und das Ende der sowjetischen Intervention in Afghanistan sind Beispiele. Die Trennung von Tschechien und der Slowakei waren ein Zeichen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung und die Unverletzlichkeit der Grenzen kein Widerspruch sein müssen. Für all das gibt es freilich eine Voraussetzung: Kein Staat darf sich das Territorium eines anderen Staates aneignen oder das Ziel haben, dies tun zu wollen.

Ich habe mir den Text des Manifestes aufmerksam durchgelesen und bin bald auf Ungereimtheiten, Widersprüche, Auslassungen und übergreifendes Nicht-zu-Ende-Denken gestoßen, was die Absicht der meisten Unterzeichner:innen, damit dem Frieden in diesem geschundenen Land näherzukommen, vollkommen unrealistisch erscheinen lässt. Insbesondere bei Sahra Wagenknecht vermute ich allerdings bloßes politisches Kalkül hinter ihrem Engagement. Dass ein Nazi wie Tino Chrupalla dieses Manifest ebenfalls unterschrieben hat, lässt mich zusätzlich skeptisch werden. Ich halte es mit dem Grundsatz: „Wenn Nazis an meiner Seite gehen, bin ich auf dem falschen Weg.“

Diese Befürchtung will ich überprüfen und deshalb werde ich den Originaltext mal der Reihe nach durchgehen:

„Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine. Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.“

Was fehlt in dieser Auflistung? Der Verursacher des Ganzen. Haben Ukrainer Frauen in Russland vergewaltigt, russische Kinder verängstigt oder das ganze russische Volk traumatisiert? Hat die Ukraine ihr eigenes Land entvölkert und zerstört? So formuliert, erscheint der von Russland entfesselte Krieg als eine Art Naturgewalt.

Logisch ist freilich, dass wir vor seiner Ausweitung Angst haben – denn dafür gibt es gute Gründe. Die werden allerdings erstmal ebenfalls nicht benannt.

„Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges? Die deutsche Außenministerin sprach jüngst davon, dass „wir“ einen „Krieg gegen Russland“ führen. Im Ernst?“

Hier werden drei Dinge miteinander vermengt, die einzeln bewertet werden müssen. Erstens: Um an die Meinung der Menschen anzudocken, die Aggressionen verurteilen, wird nun die Tatsache benannt, dass die ukrainische Bevölkerung brutal von Russland überfallen wurde und dass sie unsere Solidarität braucht. Was aber „unsere Solidarität“ ist, wollen wir bestimmen – die Meinung der ukrainischen Bevölkerung dazu wird hier nicht erwähnt. Wir haben freilich eine: „Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden?“ Mit diesem Satz wird ein neuer Rahmen gesetzt: Hier geht es nun nicht mehr darum, dass die ukrainische Bevölkerung von Russland brutal überfallen wurde, sondern um ein abstraktes Kampfgeschehen, das seltsamerweise auf dem Schlachtfeld Ukraine stattfindet. Und das Opfer ist mindestens genauso schuldig wie der Aggressor: Es brauchte sich ja nur zu unterwerfen und schon könnten alle wieder in Frieden leben…

Dann kommt die entscheidende, absolut wichtige Frage: „Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges?“ Genau diese Frage wird aber nicht beantwortet. Oder doch: Sie wird in eine bestimmte Richtung gelenkt und zwar in die des Freudschen Versprechers von Annalena Baerbock, dessen Intention unbedingt kritikwürdig ist. Was aber fehlt? Die Darstellung und die Kritik an den Kriegszielen der russischen Regierung! Sie bestehen ganz offensichtlich darin, die Ukraine heim ins russische Reich zu holen, aber das machen die Autorinnen nicht zum Thema.

Dafür wird Wolodymyr Seljenskyj in den Mittelpunkt gerückt: „Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen? Noch versichert der deutsche Kanzler, er wolle weder Kampfjets noch „Bodentruppen“ senden. Doch wie viele „rote Linien“ wurden in den letzten Monaten schon überschritten?“

Hier wird der drängend vorgetragene Wunsch der Ukraine nach mehr und stärkeren Waffen plötzlich als „Ziel“ benannt. Nun ging es ja aber vorher um „das Ziel dieses Krieges“ und damit findet hier zunächst eine nicht leicht zu bemerkende Bedeutungsübertragung statt (das Kriegsziel der Ukraine wäre es, möglichst viele schwere Waffen zu besitzen) und dann wird als rhetorische Frage nachgeschoben: „… um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?“. Ich kenne nur ein Kriegsziel der Ukraine, nämlich ihre territoriale Integrität wiederherzustellen. Das wird von den Autorinnen des Textes aber ausdrücklich nicht erwähnt – denn dann könnte es ja sein, dass dessen Leser dieses Ziel für berechtigt halten könnten. Die Unbestimmtheit dieser Formulierung hat aus meiner Sicht den Subtext: Die Ukrainer (die NATO, die USA) wollen Russland insgesamt in ihre Gewalt bringen…

„Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt. Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. Aber es wäre vielleicht der Letzte.“ Das ist gut möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Und es ist eine entsetzliche Vorstellung. Aber nüchtern betrachtet, so schwer das auch fällt: Was fehlt hier? Die Verurteilung Wladimir Putins und der russischen Regierung für diese Absicht.

Was dann folgt, wird quasi als Naturereignis geschildert – und auf einmal wäre das Land daran schuld, das einen Teil seines Territoriums von einem Aggressor befreien will? Aber davon sprechen die Autorinnen ja gar nicht, sie fabulieren einen „Angriff“ auf die Krim – so, als wäre sie ein Teil Russlands…

„Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!“

Übertragen wir diese Formulierungen mal auf eine vergleichbare historische Situation: „Nordvietnam kann zwar – unterstützt durch die Sowjetunion und das sozialistische Lager – einzelne Schlachten gewinnen. Aber es kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ So hätte eine Analyse – sagen wir im Jahr 1967 – vermutlich ausgesehen und sie wäre plausibel gewesen. Nach militärischen Erfolgen Nordvietnams und der Unterstützung seines Kampfes in weiten Teilen der Welt kam es aber dann ab 1969 zu Friedensverhandlungen in Paris, die 1973 erfolgreich beendet wurden.

Hat eigentlich damals die Friedensbewegung von der Sowjetunion und China gefordert, an Nordvietnam keine Waffen mehr zu liefern und zwar mit den Worten „Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Vietnam gekämpft und gestorben werden?“ Ich kann mich nicht erinnern.

Nun zitieren die Autorinnen aber noch einen Kronzeugen: Dass die Ukraine gegen die stärkste Atommacht der Welt nicht gewinnen könne, „sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!“

Schauen wir mal, was er wirklich gesagt hat: „Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch“ Und das ZDF setzt fort: „Wahrscheinlicher sei nach Ansicht von Milley eine politische Lösung. Russland liege „im Moment auf dem Rücken“, sagte der General. Die Ukraine müsse aus einer Position der Stärke heraus mit Russland Gespräche führen können. … Unabhängig davon erklärten US-General Milley und Verteidigungsminister Austin, die USA würden der Ukraine bei der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg weiterhin helfen – „so lange wie nötig.“ General Milley sagte: „Die Ukraine wird weiter bestehen. Die Ukraine wird nicht nachgeben“. Weiter sagte er, dass die Ukraine frei sei, „und sie [die Menschen in der Ukraine] wollen frei bleiben.“ (Quelle: ZDF Online, 17.11.2022)

Egal, was man nun von dieser Auffassung halten mag: Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zitieren falsch und zwar in demagogischer Absicht: Sogar der höchste Militär der USA ist für Verhandlungen – das soll bei der Leserin, beim Leser hängenbleiben.

„Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!“

Diese Auffassung ist sicher richtig. Aber an wen ist sie adressiert? Müsste sie nicht zuerst an den Aggressor gerichtet werden? Darum aber schummeln sich die Autorinnen mit einem scheinbaren Vernunftargument herum:

„Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken. Doch wir können und müssen unsere Regierung und den Kanzler in die Pflicht nehmen und ihn an seinen Schwur erinnern: „Schaden vom deutschen Volk wenden“.

Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem dritten Weltkrieg näher. (Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht)“

Hier bleibt ein Begriff unbestimmt: „die Eskalation der Waffenlieferungen“. Heißt das, in bisherigem Maße können sie fortgesetzt werden? Dass werden manche denken und sich sagen: Das kann ich unterschreiben. Andere entnehmen diesem Satz, dass bereits jegliche Waffenlieferungen eine Eskalation darstellen, sind gegen alle Waffenlieferungen und unterschreiben deshalb diese Forderung. Merke: Mit unbestimmten Formulierungen bekommst du Leute mit durchaus unterschiedlichen Motiven dazu, deine Forderungen gleichermaßen zu unterstützen. Das mag man geschickt nennen oder raffiniert – ich nenne es unredlich.

Aber egal: Hauptsache, Olaf Scholz stellt sich an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen. Ok – wo könnte er die finden? Seltsamerweise existiert sie bisher gar nicht. Na gut, aber nun ist das ja geklärt: Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben sie gegründet und das wird jetzt was – kannste glauben. Und wenn sich dann Olaf Scholz an ihre Spitze gestellt hat, wird Frieden in der Ukraine.

Soviel zur Realisierbarkeit der Aktion. Völlig außer dem Blick bleibt, welche Wirkung das auf Wladimir Putin haben wird: Im besten Fall lacht er sich darüber tot. Im schlechtesten wird er, um seine Kriegsziele durchzusetzen, tatsächlich als erster Atomwaffen einsetzen. Die Ukraine kann das nicht: Sie hat auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Ob Russland die Ukraine angegriffen hätte, wenn sie noch Atommacht wäre?

Aber das ist leider oder Gott sei Dank eine bloße Spekulation. Die offene Frage ist freilich: Wie kann der Erpressung der übrigen Welt durch die Atommacht Russland Einhalt geboten werden? Durch Unterwerfung? Durch Ignorieren? Durch eine Aktion, die Russland tatsächlich an den Verhandlungstisch zwingt? Wer hier eine praktikable Antwort findet, verdient den Friedensnobelpreis und ich bin kein möglicher Kandidat dafür. Was aber gar nicht geht ist, eine Erpressung nicht als solche zu bezeichnen und eine Unterwerfung unter einen Despoten nicht als eine Unterwerfung.

In seiner Kantate auf die Hinrichtung von Koloman Wallisch schrieb Bertolt Brecht:

„Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt

Und lässt andere kämpfen für seine Sache

Der muss sich vorsehen; denn

Wer den Kampf nicht geteilt hat

Der wird teilen die Niederlage.

Nicht einmal den Kampf vermeidet

Wer den Kampf vermeiden will; denn

Es wird kämpfen für die Sache des Feinds

Wer für seine Sache nicht gekämpft hat.“

Wir sollten alle über diese Worte nachdenken.

Jegliche ernstzunehmende Unternehmung mit dem Ziel einer Beendigung der russischen Aggression muss an den Aggressor gerichtet sein – nicht an das Opfer oder die Unterstützer des Opfers. Alles andere ist populistischer Unfug. Leider sind schon eine Menge Leute, die ich schätze, auf die Demagogie der Autorinnen hereingefallen.

Was kann stattdessen wirklich getan werden? Erinnern wir uns an die Zeit des Vietnamkrieges:

Unterstützen wir das Opfer der imperialistischen Aggression Russlands wie damals Nordvietnam mit allem, was es zur Befreiung seines Territoriums braucht.

Unterstützen wir umfassende Sanktionen ohne Hintertüren (z.B. die Lieferung kriegswichtiger Technik an Russland über die Türkei), um den Krieg für Russland teurer als Friedensverhandlungen zu machen. Fordern wir, dass die Lasten dieser Sanktionen in unserem Land sozial gerecht verteilt werden.

Nutzen wir vorhandene Kontakte zu Freunden und Bekannten in Russland, um über den realen Verlauf des Krieges und sein Hauptziel – die Annexion der Ukraine – zu berichten.

Unterstützen wir alle Kräfte in Russland, die sich in Worten oder Taten gegen den Krieg des russischen militärisch-industriellen Komplexes gegen ein unabhängiges Nachbarland wenden.

Unser Ziel muss sein, dass von russischem Boden niemals wieder ein Krieg ausgeht – und auch nicht vom Boden irgendeines anderen Landes. Das schließt freilich aus, dass ein Aggressor seinen Krieg siegreich beendet.

Dafür sollten alle, die das ermöglichen können, am 25.02.2023 vor dem Brandenburger Tor demonstrieren.

Leipzig, 12.02.2023                                         Bernd Friedrich

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