Friede den Wächtern

Eine Kritik des pazifistischen Bellizismus

Christoph Spehr

Es ist Zeit, eine Unterscheidung zu treffen, von der die weitere Entwicklung der Linken, und der Partei DIE LINKE, abhängen kann. Sie ist notwendig geworden, weil die Umstände sie notwendig machen, die von der Linken mehr Klarheit und Trennschärfe in Fragen von Krieg und Frieden erfordern. Vor allem aber ist sie notwendig geworden, weil der pazifistische Bellizismus, auch wenn er seine Vorläufer und seine Geschichte hat, in den letzten Jahren seine volle Gestalt und Wirkungsmacht entwickelt hat. Und schließlich ist sie notwendig geworden, weil die reale Gefahr besteht, dass der pazifistische Bellizismus die legitimen und wichtigen pazifistischen Elemente und Tendenzen in der Linken delegitimiert und zerstören wird.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die politischen Koordinaten verschoben. Das Bekenntnis zum Recht auf militärische Selbstverteidigung gegen diesen Angriffskrieg hat Folgen, die Linken schwerfallen müssen. Da dieses Bekenntnis zum Recht auf Selbstverteidigung leer läuft, wenn es angesichts des Ungleichgewichts der Kräfte aussichtslos bleibt, zieht es unweigerlich die Frage von Waffenlieferungen und anderen militärischen Unterstützungsleistungen nach sich. Wer diese ablehnen will, muss den Nachweis führen, dass Sanktionen allein hinreichend wären, um den militärischen Angriff abzuwehren, und damit eine andere Form zwischenstaatlicher Gewalt in verschärfter Form befürworten. In jedem Fall führt der russische Angriffskrieg unabweisbar vor Augen, dass das traditionelle linke friedenspolitische Weltbild, wonach das Eindämmen westlicher und vor allem US-amerikanischer Dominanz die zentrale Strategie für mehr Frieden und globale Gerechtigkeit ist, in einer multipolaren, vom Aufstieg früherer Schwellenländer geprägten Welt, friedenspolitisch nicht mehr ausreichend ist.

Es gibt in meiner Partei und in der gesamten Linken viele, die unter dieser Koordinatenverschiebung zutiefst leiden und mit Recht danach fragen, wohin es führen wird, wenn man sich diesen Fragen stellt. Vielen geht das so aus einer pazifistischen Überzeugung heraus. Es ist mir wichtig, die Diskussion mit diesen Genoss*innen zu führen, auch wenn wir unterschiedliche Positionen vertreten. Es gibt Genoss*innen, die ausgetreten sind, weil sie sich mit dem friedenspolitischen Beschluss des letzten Bundesparteitags nicht identifizieren können, oder weil sie die Position meines Landesverbandes, der mehrheitlich auch Waffenlieferungen für richtig hält, nicht ertragen. Ich bedaure das und hoffe, dass sie einen Weg finden, diese Spannung wieder innerhalb der Partei auszuhalten.

Obwohl ich die pazifistischen Grundannahmen (militärische Gewalt ist immer falsch, und der einzige Weg zu einer friedlichen Welt ist die Verbreitung dieser Haltung) nicht teile, respektiere ich linken Pazifismus. Er gehört zur Linken. Er ist ein notwendiges Gegengift zur inhärenten Neigung der militärischen Logik zur Eskalation und zur Unumkehrbarkeit. Er steht dazu, dass Einwände und Zweifel manchmal wichtiger sein können als Lösungen, dass man aus der eingemeindenden Dynamik militärischer Auseinandersetzungen immer wieder heraustreten muss. Er verweist darauf, dass das Durchsetzen legitimer Ziele einen Preis hat, der zur Umkehr zwingen kann, und dass die Verteilung dieses Preises, der bezahlt werden muss, eine klassenpolitische und geschlechtspolitische Dimension hat. Er erinnert daran, dass die Deserteure, „Vaterlandsverräter“, die Organisatorinnen der Brotdemonstrationen, die Kriegsdienstverweigerer und Meuterer zur linken Geschichte und Identität gehören. All das ist wichtig und darf der Linken nicht verloren gehen.

Es gibt in der aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzung aber auch eine Richtung und Haltung, die man als pazifistischen Bellizismus bezeichnen muss. Ihn respektiere ich nicht. Er hat keinen Platz in der Linken. Ganz im Gegenteil ist die Abgrenzung zu ihm für die Linke eine unbedingte Notwendigkeit.

Der pazifistische Bellizismus ist nicht gegen den Krieg, er befürwortet ihn als legitimes Mittel der Durchsetzung politischer Interessen. Er verharmlost ihn, indem er die Unterscheidung zwischen militärischen Mitteln und anderen Formen von Druck und Zwang verwischt. Er unterstützt ihn, indem er Forderungen nur an die Seite der Angegriffenen richtet oder dessen Verbündete dazu aufruft, über seinen Kopf hinweg auszuhandeln, was dem Angreifer zugestanden werden soll. Er ist durch und durch parteiisch und Teil eines Informations- und Meinungskrieges, in dem er sich bedingungslos auf die Seite derjenigen Macht schlägt, die den Krieg begonnen hat. Sein Ziel ist es, der kriegsauslösenden Macht zum Erfolg zu verhelfen, indem er den Widerstand gegen den Angriffskrieg als aussichtslos, illegitim, unmoralisch darstellt und ihm die eigentliche Schuld zuweist. Er appelliert nicht an den Internationalismus, sondern an den Nationalismus, indem er aus der eigenen nationalen wirtschaftlichen und sozialen Interessenslage heraus zur Entsolidarisierung mit dem Angegriffenen aufruft.

Der pazifistische Bellizismus hat nichts zu tun mit der linken Kritik des „Burgfriedens“, in den sich die deutsche Sozialdemokratie zu Beginn des Ersten Weltkriegs zwingen ließ und der mit der Zustimmung zu den deutschen Kriegskrediten besiegelt wurde. Denn Deutschland war zusammen mit Österreich die angreifende Macht, die den Krieg auslöste und seine Nachbarländer überfiel. Er hat auch nichts zu tun mit der antimilitaristischen Position der Zweiten Internationale vor 1914, die auf die Solidarität der Arbeiterklasse gegen ihre kapitalistischen Regierungen setzte. Denn nichts läge dem heutigen pazifistischen Bellizismus ferner, als die russische Arbeiterklasse zum Sturz ihrer militaristischen Regierung aufzurufen. Er steht nicht in der Tradition der Antikriegsbewegung der 60er Jahre, die dem bewaffneten Befreiungskampf in Vietnam zu keinem Zeitpunkt die Verantwortung zugewiesen hätte, den Krieg durch einen Kompromissfrieden zu beenden, der die geostrategischen Interessen der USA angemessen berücksichtigt hätte. Er kann sich auf keinen historischen Präzedenzfall berufen, in dem die internationale Linke einen Angriffskrieg auf ein Nachbarland unterstützt oder einen Präventivkrieg akzeptiert hätte.

Die oben genannten Kriterien:

ziehen sich seit Beginn des Ukrainekrieges durch die Äußerungen von Sarah Wagenknecht, Sevim Dagdelen oder Klaus Ernst. Sie bestimmen auch die Positionierung der AfD zum Ukrainekrieg, weshalb die Äußerungen zum Krieg tatsächlich austauschbar sind und der Beifall der AfD zu entsprechenden Reden im Bundestag völlig gerechtfertigt ist. Die Kriterien finden sich allesamt wieder im jüngsten gemeinsamen Aufruf „Manifest für den Frieden“ von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer.

Befürwortung des Angriffskriegs als legitimes Mittel zur Interessenwahrung

Der pazifistische Bellizismus sagt nicht, der russische Angriffskrieg sei richtig. Das „Manifest“ bezeichnet ihn als „brutal“. Daran schließt sich aber immer die Ausführung an, dass die eigentliche Kriegsursache das Verhalten des Westens, der NATO oder der USA gewesen sei („Warum ist die europäische Friedensordnung gescheitert? Weil die Amerikaner sie nicht wollten“, Wagenknecht im Doppelinterview mit Carlo Masala im Spiegel). Der Angriffskrieg sei eine verständliche Reaktion auf die NATO-Osterweiterung oder die Westorientierung der Ukraine. „Die russische Führung hat immer wieder signalisiert, dass hier für sie rote Linien überschritten wurden. Dieser Krieg wäre verhinderbar gewesen.“ (SW, Interview) Im „Manifest“ heißt es: „Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt.“ Das gilt nicht als Handlungsweise eines Wahnsinnigen, denn dann würde der Aufruf zu Verhandlungen wenig Sinn machen – auch hier ist der Angriffskrieg (der Atomschlag gegen den Westen) nicht Ziel der Kritik, sondern des Verständnisses. Und zwar nicht im Sinne des Verstehens von Motiven (das ist immer notwendig), sondern des Einverständnisses, dass eine solche Reaktion die natürliche wäre.

Verharmlosung des Krieges durch Gleichstellung mit anderen Handlungen

Dass osteuropäische Staaten der NATO beigetreten sind oder die Ukraine dies beabsichtigt, wird auf eine Stufe mit dem Führen eines Angriffskrieges gestellt. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die NATO trotz der Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA unter Trump keine Mittelstreckenwaffen in Europa stationiert hat, die Moskau erreichen könnten. Die Formulierung, der Westen habe „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun gebrochen“ (in der Bundestags-Rede vom September 2022) war deshalb so perfide, weil sie die Sanktionen ihrerseits mit einem Angriffskrieg gleichstellt, und zwar quasi gegen einen wirtschaftlich Verbündeten. Das „Manifest“ zitiert Baerbocks Äußerung vom „Krieg gegen Russland“ so, dass der Unterschied zwischen Waffenlieferungen an die Ukraine und dem russischen Angriff mit Panzern und Raketen vollständig nivelliert wird.

Verschiebung der Verantwortung für die Beendigung des Krieges auf den Angegriffenen oder seine Verbündeten

Im „Manifest“ ist Selenskyj klar der Schuldige dafür, dass es keinen Frieden gibt. Die Vorstellung, dass Russland den Weg zu Verhandlungen und zum Frieden durch Rückzug auf die Linien vor dem 24. Februar 2022 öffnen muss, fehlt in allen Äußerungen der pazifistischen Bellizisten zum Krieg. Die „Kompromisse“, die von der Ukraine gefordert werden, von ihren Verbündeten über ihren Kopf hinweg angeboten oder schon mal öffentlich diskutiert werden sollen, gehen selbstverständlich davon aus, dass ein Frieden eine Korrektur der Situation vor dem 24. Februar 2022 im Sinne Russlands sein muss. Mit Sicherheitsgarantien sind üblicherweise nur Zugeständnisse an die russische Seite gemeint, die Sicherheit der Ukraine soll hauptsächlich dadurch gesichert werden, dass sie sich endlich richtig verhält: „Die Neutralität der Ukraine war lange Zeit in ihrer Verfassung verankert (…) Es hätte diesen furchtbaren Krieg nicht gegeben, wenn die Ukraine auf diesem Kurs geblieben wäre.“ (Interview)

Einseitige Parteinahme für die Sichtweise des Angreifers

Seit Beginn der russischen Invasion gehört der Ausruf „Wahnsinn!“ oder das Adjektiv „wahnsinnig“ zum Standard-Repertoire der Tweets von Wagenknecht oder Dagdelen. Nicht in Bezug auf den russischen Angriff oder auf Putin, sondern immer und ausschließlich in Bezug auf tatsächliche oder angebliche Maßnahmen und Handlungen des Westens, der NATO oder der Bundesregierung. Fake-Meldungen wie die, der Westen wolle der Ukraine Mittelstreckenraketen liefern, die Moskau erreichen könnten, werden nie korrigiert. Russische Narrative werden systematisch bedient, so auch im „Manifest“: „Die Ukraine (…) kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen“; die Ukraine sei „bald ein entvölkertes, zerstörtes Land“, während Russland den Krieg scheinbar unbegrenzt und bequem fortsetzen kann; jeder Tag, an dem die Ukraine nicht einlenkt und Zugeständnisse an Russland macht, „bringt uns einem 3. Weltkrieg näher“. Dabei wird übrigens geflissentlich übersehen, dass der Ukrainekrieg ein außerordentlich „verhandelter“ Krieg ist, bei dem die Generalstäbe der USA und Russlands in ständigem Austausch stehen, die Waffenlieferungen des Westens mit vielfältigen Auflagen erfolgen, und der Gesprächsfaden nie abgerissen ist. Aber der pazifistische Bellizismus stellt keine Forderungen an Moskau – weder die, das Bombardement der ukrainischen Infrastruktur einzustellen, noch die, die kriminelle Söldnertruppe Wagner zurückzuziehen. Die vielleicht übelste Passage im „Manifest“ ist die gleich zu Anfang, wo die Vergewaltigungen als eine Folge und Begleiterscheinung „des“ Krieges und „der“ Kämpfe aufgeführt werden – nicht als Kriegsverbrechen russischer Täter.

Delegitimierung des Widerstands gegen den Angriffskrieg

Der Ukraine ist es gelungen, große Teile des nach dem 24. Februar 2022 besetzten Territoriums zu befreien. Die Menschen in Kiew und in Charkiw können sich heute sicherer fühlen als im März, nicht unmittelbar davor zu stehen, von russischen Soldaten besetzt, gedemütigt, verhaftet, gefoltert oder deportiert zu werden. Die Waffenlieferungen haben dazu beigetragen, dass ein großer Teil der russischen Raketen, Drohnen und Marschflugkörper, die auf ukrainische Städte geschossen werden, abgefangen werden. All das kommt im Weltbild der pazifistischen Bellizisten nicht vor. Das Ziel der Ukraine, diesen Krieg zu gewinnen, das heißt den russischen Angriff vollständig zurückzuschlagen und aus dieser Position heraus über zukünftige Regelungen zu verhandeln, wird lächerlich gemacht oder zur Aggression umgedeutet. „Nach den zugesagten Panzern fordert er [Selenskyj] jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?“ heißt es im Manifest, so als plane die Ukraine den Vormarsch auf Moskau. Dass Russland selbstverständlich seit dem 24. Februar 2022 Panzer, Kampfjets, Raketen und Kriegsschiffe einsetzt und unverändert beteuert, alle seine Kriegsziele vollständig erreichen zu wollen, wird mit keinem Wort erwähnt.

Appell an den eigenen Egoismus

Die einzige Standard-Forderung des pazifistischen Bellizismus, die im „Manifest“ fehlt, ist die nach dem sofortigen Ende der Sanktionen. Sie schwingt aber mit Appell an die Bundesregierung, „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“. Wagenknecht, Ernst und die AfD sind expliziter an diesem Punkt: Sanktionen seien, weil sie der deutschen Wirtschaft schaden, gegen die Interessen der deutschen Bevölkerung und sofort zu stoppen. Da Waffenlieferungen ohnehin abgelehnt werden, bedeutet dies unterm Strich: Verzicht auf jedweden Druck auf Russland – freie Fahrt dem Aggressor.

Dem pazifistischen Bellizismus die Bühne nehmen

Vom pazifistischen Bellizismus geht eine Provokation aus, die man zuerst spürt, bevor man sie erklären kann. Er geht einher mit einer anmaßenden Selbstgerechtigkeit, einer extrem aggressiven Sprache und einer permanenten Beleidigung und Verhöhnung aller, die seine Position nicht teilen. Die Formulierungen von der „dümmsten Regierung“ weit und breit oder von der „gefährlichsten Partei Deutschlands“ (gemeint sind die Grünen) finden sich unterschiedslos bei Wagenknecht und bei Julian Reichelt. Der pazifistische Bellizismus ist getragen von einer großen Kälte gegenüber den ukrainischen Opfern, von einer Gleichgültigkeit gegenüber russischer Unterdrückung und von einer bewussten Ignoranz gegenüber dem dringenden Wunsch der Ukraine, nie wieder zum Ziel eines solchen Unterwerfungsversuches zu werden. Die Provokation ist gewollt, denn sie bringt maximale Aufmerksamkeit und große Bühne.

Es ist höchste Zeit, dem pazifistischen Bellizismus diese Bühne zu entziehen, zumindest in der Linken. Er gehört auf keine Friedenskundgebung, denn er ist nicht für den Frieden. Der Appell an den Frieden dient lediglich dazu, dem russischen Angriffskrieg bessere Chancen zu verschaffen. Denn letzten Endes ist es das zentrale Ziel des pazifistischen Bellizismus, alle Formen der Gegenwehr gegen die russische Kriegspolitik anzugreifen und zu beenden. Keine Waffenlieferungen, keine Sanktionen, nicht einmal politische und moralische Unterstützung oder Skandalisierung der russischen Invasion als ungeheuerlicher Tabubruch. Alles schon dagewesen, so der pazifistische Bellizismus, ganz normales Verhalten unter Großmächten. Das müsse man akzeptieren und einen guten Deal mit Russland machen, ganz im Stil von Trump und in schwer erträglicher Kontinuität zu der historisch mehrfach erprobten deutsch-russischen Aufteilung Osteuropas in jeweilige Einflusssphären.

Der pazifistische Bellizismus ist nicht für den Frieden, denn er ist nicht gegen den Krieg, der seit dem 24. Februar 2022 mitten in Europa geführt wird: den russischen Angriffskrieg gegen ein Nachbarland. Seine politische Agitation gipfelt, um es mit Thomas Brasch zu sagen, in der Forderung: „Friede den Wächtern“. Das ist für die Linke tabu und muss es bleiben, und sie muss das unmissverständlich deutlich machen.

Welches Ziel verfolgt Russland mit seinem Krieg gegen die Ukraine?

Ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine eine Reaktion auf eine reale Bedrohung Russlands durch die USA und die NATO oder handelt es sich um einen neozaristischen Eroberungskrieg zur Annexion neuen Territoriums?

Das ist keine rein akademische Frage. Auch „Präventivkriege“ sind völkerrechtswidrig und deshalb zu verurteilen. Könnte man aber dem Aggressor glaubhaft vermitteln, dass es keine Bedrohung gibt, könnte er merken, dass er überflüssigerweise Ressourcen einsetzt, um ein Ziel zu erreichen, was schon erreicht ist.

In einem Leserbrief im nd vom 21.02.2023 schlug Fritz Brendel vor:

„Vielleicht macht mal der Westen ein Angebot. Zum Beispiel Rückzug der Nato-Truppen um 500 Kilometer und mehr (naiv, was?). Damit würde auch die Friedensbewegung in Russland gestärkt. Putin würden die Argumente ausgehen.“

Na klar ist das naiv. Es unterstellt, dass es Russland um Verteidigung seines Territoriums geht, wie es vor der Annexion der Krim bestand. Spätestens die Einverleibung der Krim in das russische Hoheitsgebiet macht aber klar, dass es bei der Aggression Russlands gegen die Ukraine gar nicht um die eigene Sicherheit geht, sondern um die Eroberung fremden Territoriums. Und wenn sich dann die NATO um 500 Kilometer zurückzöge, hätte die russische Armee freie Bahn.

Was, wenn Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine erfolgreich wäre? Die wahrscheinlichen Folgen eines solchen Ereignisses möchte ich unter Einbeziehung psychologischer Erkenntnisse beschreiben. Das hat im Marxismus wenig Tradition, weil Marx und Engels die Beweggründe für menschliches Handeln ausschließlich aus den jeweiligen ökonomischen Verhältnissen dieser Personen abgeleitet haben. Das hatte Gründe: Da zu Marx und Engels Zeiten die Psychologie noch keine eigenständige Wissenschaft war, mussten die beiden bei der Erklärung menschlichen Handelns notwendigerweise von unvollständigen Voraussetzungen ausgehen. Das ist heute anders.

Menschen sind biopsychosoziale Einheiten, ihr Verhalten erklärt sich aus dem Zusammenwirken all dieser drei Bereiche. Also muss ich ihr Verhalten auch unter Einbeziehung des Zusammenwirkens biologischer, psychischer und sozialer Faktoren erklären, ansonsten werden wesentliche Teile ihres Verhaltens nicht analysiert und die Wahrscheinlichkeit nimmt rapide zu, dass es unvollständig oder falsch bewertet wird.

Ich sehe mich nicht in der Lage, dass in seiner Gesamtheit leisten zu können. Die psychische Seite menschlichen Verhaltens kann ich aber erklären – es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie!

Warum tun Menschen, was sie tun? Weil sie dafür bewusste oder unbewusste Motive haben.

Wo kommen die her? Grundlage sind zunächst vier Gruppen angeborener Bedürfnisse: organische Bedürfnisse (Sauerstoff, Nahrung usw.), sexuelle Bedürfnisse, Bedürfnisse nach Umweltkontrolle und Bedürfnisse nach sozialem Kontakt.

Wenn wir erleben, dass wir diese Bedürfnisse mit bestimmten Handlungen besonders gut befriedigen können (Sekt schmeckt aus einem Sektglas besser als aus einem Zahnputzbecher), wenn also ein Erlebnis besser als vorhergesehen ist, lernen wir auf der Basis der angeborenen Bedürfnisse neue Bedürfnisse.

Auf der Grundlage dieser angeborenen und erlernten Bedürfnisse bewerten wir alle Gegenstände, Sachverhalte, Personen, Ereignisse, Mitteilungen unter dem Gesichtspunkt: Sind sie zur Befriedigung unserer Bedürfnisse prinzipiell geeignet? Das Resultat einer solchen Bewertung ist eine Emotion: Wenn wir an einem heißen Sommertag auf einer Wanderung ein Wirtshausschild sehen, löst das Freude aus: Wahrscheinlich gibt es da was Kühles zu trinken.

Zum Handeln brauchen wir aber ein Motiv oder eine Gruppe von Motiven – eine Motivation.

Ein Motiv oder eine Motivation entsteht, wenn wir nicht nur Gegenstände, Sachverhalte, Personen, Ereignisse, Mitteilungen unter dem Gesichtspunkt: „Sind sie zur Bedürfnisbefriedigung prinzipiell geeignet?“ bewerten, sondern auch die konkreten zugehörigen Handlungen. So entsteht der Antrieb, diese Handlungen auch zu planen und auszuführen. Wenn wir das Wirtshausschild sehen, ist Hingehen eine konkrete zugehörige Handlung, die geeignet ist, in der Folge weiterer Handlungen unseren Durst zu stillen. Auf einmal gehen wir schneller…

(vgl. Ute Holzkamp-Osterkamp: Grundlagen der Motivationspsychologie. Sie hat gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Holzkamp an der FU Westberlin auf marxistischer Grundlage die Kritische Psychologie begründet.)

Damit haben wir den Hintergrund für menschliche Handlungen beschrieben. Nun müssen wir uns das Bedürfnis nach Umweltkontrolle genauer vornehmen: In einer kooperativen Welt, die durch Vorhersehbarkeit und Vertrauen charakterisiert ist, kann sie gegenseitig ausgehandelt werden. In einer unkooperativen Welt bleibt nur ein Weg, die Umweltkontrolle zu gewährleisten und der heißt „Macht über Unterlegene“.

Jetzt brauchen wir nur noch einen Baustein und das ist die Antwort auf die Frage, was dazu führt, dass wir lernen. Die Antwort ist einfach: Wir lernen, wenn ein Ergebnis neu oder anders als erwartet ist. Das wird gespeichert und beeinflusst nachfolgendes Handeln zur Sicherung unserer Bedürfnisse.

Menschen – also auch Politiker:innen – lernen also aus ihren Erfahrungen. Sie streben danach, angenehme Erfahrungen (solche, die sie ihren Zielen näherbringen) zu wiederholen und unangenehme zu vermeiden. Und Macht – also realisierte Umweltkontrolle – ist sehr angenehm, eben weil sie ein menschliches Grundbedürfnis befriedigt.

Nun zurück in die Praxis: Wie können russische Politiker ihr Bedürfnis nach Umweltkontrolle verwirklichen?

An Ressourcen stehen ihnen ein sehr großes Land mit einer Vielzahl von Bodenschätzen zur Verfügung und außerdem eine leidensfähige Bevölkerung, die autoritäre Herrschaft gewohnt ist, ein relativ mächtiger militärisch-industrieller Komplex, ein Staatsapparat in der Hand von Geheimdiensten, eine autoritäre Herrschaftsform (demokratische Institutionen existieren praktisch nicht mehr), gleichgeschaltete Massenmedien und mit der russisch-orthodoxen Kirche eine theoretische Grundlage für Ideologie und ein Apparat zu deren Verbreitung. Und man ist Atommacht.

Russland hat eine Macht- und eine Opfergeschichte. Ein Machtfaktor war das zaristische Reich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, bis es ökonomisch nicht mehr mit der Entwicklung anderer Staaten mithalten konnte. Dies zeigte sich im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05: Japan hatte in den vorhergehenden 30 Jahren erfolgreich den Weg aus mittelalterlichen Strukturen in die Gegenwart des beginnenden 20. Jahrhunderts gefunden, Russland war weitgehend in seiner Entwicklung stehengeblieben. Im 20. Jahrhundert konnte sich die Sowjetunion unter riesigen Opfern als eine brutale Diktatur behaupten, den Aggressor Deutschland besiegen und die nach der Oktoberrevolution verlorenen Gebiete wieder in sein Staatsgebiet einfügen. Ihr wirtschaftliches System verlor aber den Wettkampf mit den entwickelten kapitalistischen Staaten.

Fazit: Russische Politiker finden in der Geschichte ihres Landes vor, dass sie ihr Bedürfnis nach Umweltkontrolle nur befriedigen können, wenn sie auf Diktatur und Militär setzen. Alles andere hat in diesem Land nicht funktioniert.

Dazu braucht man natürlich eine Ideologie, die die Bevölkerung motiviert. Deren wesentlicher Bestandteil ist die erlebte bzw. verkündete Bedrohung durch ein feindliches Ausland: Die napoleonischen Truppen, die 1812 Russland erobern wollten, das faschistische Deutschland, mit dem man Europa gemeinsam aufteilen wollte und das wortbrüchig den europäischen Teil der Sowjetunion angriff, die Amerikaner, die ein „Rollback“ des Sozialismus versuchten, die NATO, die die Sowjetunion im Kalten Krieg erfolgreich totrüstete – alles das wird nun einem – zugegeben nationalistischen – Regime in der Ukraine, den USA und den europäischen NATO-Staaten zugeschrieben. Ausgeblendet wird, dass Deutschland für billiges russisches Erdgas beinahe den Bruch mit den USA riskiert hätten. Auf die russische Propaganda wäre Goebbels neidisch gewesen…

Diesem Volk kann man verkünden, dass es um einen Schutz des eigenen Landes geht, insbesondere, wenn man, wie Putin das tut, der Ukraine die Eigenstaatlichkeit abspricht. Hinter dieser Fassade geht es aber tatsächlich um etwas Anderes, nämlich um die Eroberung und Aneignung des Territoriums anderer Staaten in zaristischer Tradition. So wie sich das zaristische Russland in den Kaukasus und nach Sibirien ausgedehnt hat, so will sich auch Russland wieder ausdehnen. Nur das sichert die Macht der herrschenden Klasse dieses Landes. Das sind aus meiner Sicht nicht mal in erster Linie die Oligarchen, sondern es ist eine Institution: Die russischen Geheimdienste.

Das Militärbudget Russlands ist tatsächlich deutlich geringer als das der NATO. Nun müsste man dazu natürlich die entsprechenden Preisniveaus einrechnen, aber das würde wohl auch nicht für einen Gleichstand reichen. Aber wäre Russland das Risiko dieses Krieges eingegangen, wenn es ernsthaft hätte befürchten müssen, angegriffen oder gar besiegt zu werden? Niemand, der noch meint, mit seiner Wirtschaft Geld verdienen zu können und auf diese Weise sein Bedürfnis nach Umweltkontrolle zu befriedigen, greift eine Atommacht an. Darauf konnte sich Russland verlassen. Ein Krieg gegen Russland wäre in keinem Land des Westens der Bevölkerung vermittelbar, die Bundeswehr als wesentlicher Bestandteil der NATO könnte im Fall eines konventionellen Angriffs von außen nicht mal die Landesverteidigung gewährleisten – na, und so weiter.

Damit sind wir beim zweiten Punkt: Die Geschichte der letzten Jahrzehnte lehrt, dass Russland immer wieder in Territorien einmarschieren und sie zum Teil dauerhaft besetzen konnte, ohne dass es ernsthafte negative Konsequenzen gab. Beispiele hierfür sind Tschetschenien, Südossetien, Transnistrien, Donezk, Luhansk und dann auch die Krim. Die Kosten waren für Russland vernachlässigbar. Russland hat dabei gelernt, dass es bei Aggressionen erfolgreich sein kann. Ohne diese Erfahrung hätte es mit Sicherheit nicht die Ukraine angegriffen.

Aus diesen beiden Gründen ist die Aussage, dass man, wenn man Russland in seinem Expansionsstreben nachgibt, seinen Appetit auf mehr unterstützt, keine Argumentation für einfache Gemüter, sondern eine Tatsache.

Da stellt sich nun die Frage, was dieses Russland dazu veranlassen könnte, von seinem Expansionskurs abzulassen. Außer einer spontanen Erleuchtung à la Paulus auf dem Weg nach Damaskus fällt mir nur ein, dass in einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung die Aggression gegen die Ukraine für Russland zu teuer wird – so, wie der Vietnam-Krieg für die USA zu teuer wurde, was sie verhandlungsbereit machte. Aber wie könnte ein autoritärer Herrscher eine solche Kehrtwende begründen? Das deutsche Kaiserreich hat den ersten Weltkrieg beendet, weil ein Sieg aussichtslos geworden war, obwohl noch kein Quadratmeter Deutschlands besetzt war. Für Hitler war so etwas außerhalb des Vorstellbaren, weil er und die Naziführung letztendlich nicht mehr rational handelten.

Putin müsste ein Kriegsende als Sieg verkaufen können – das kann er aber nur, wenn er eines seiner Kriegsziele erreicht. Sein wichtigstes hat er in seiner Fernsehrede zur Begründung der „Spezialoperation“ in einem Nebensatz versteckt: „Das Problem besteht darin, dass auf den an uns angrenzenden Gebieten – ich betone, auf unseren eigenen historischen Gebieten (Hervorhebung – B.F.) – ein uns feindlich gesinntes Anti-Russland geschaffen wird, das unter vollständige Kontrolle von außen gestellt wurde, von den Streitkräften der Nato-Länder intensiv besiedelt und mit den neuesten Waffen vollgepumpt wird.“ Die Ukraine – dass sind Russlands eigene historische Gebiete und die sollen von Nazis und NATO befreit werden. Unter dem macht er es nicht.

Damit kommt ein irrationales, rein ideologisches Moment in die Motivation Putins und das macht jede Antizipation seines künftigen Verhaltens schwierig. Wenn man das über den Befehlshaber einer Atommacht sagen muss, ist das angstauslösend und man möchte, dass eine solche Situation sofort beendet wird. Also wollen viele Menschen diplomatische Aktivitäten, am besten Friedensverhandlungen jetzt gleich. Und sie sind bereit, dafür zu zahlen: Mit dem Territorium der Ukraine. Die haben ja ein großes Land, da können sie ruhig was davon abgeben. Stört uns ja nicht und ist außerdem für den Frieden…

Das sagen sie natürlich nicht so: Sie halten an einer Mitkriegsschuld der NATO und die USA fest, sie stellen fest, dass dieser Krieg Klassencharakter trägt und die Karl-Liebknecht-Kreise (die Seeheimer Kreise der LINKEN), aber bei weitem nicht nur sie reduzieren den Krieg Russlands gegen die Ukraine auf einen Stellvertreter-Krieg, in dem die NATO die Ukraine für ihre Interessen verheizt, während Sahra Wagenknecht der Meinung ist, dass die Ukraine die NATO in einen Stellvertreterkrieg hineinzieht – Konfusion allenthalben und alles hat ein Ziel: Dem Westen wenigstens eine Mitschuld am Krieg zu geben und Wladimir Putin gnädig zu stimmen. Daher wird er auch nicht als Adressat des Manifestes für den Frieden genannt.

Wir stecken in einem Dilemma und eine Seite davon heißt: Jeder, der – auch unter noch so redlicher Gesinnung – für die Fortsetzung dieses Krieges anhand von Waffenlieferungen ist, muss belegen, wie er Russland vom Einsatz von Atomwaffen abhält und wie hoch die Kosten für Russland sein müssen (in Geld und in toten Soldaten), damit es an den Verhandlungstisch kommt.

Und das ist die andere Seite: Jeder, der für Diplomatie und gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ist, muss sagen, wie er Russland von weiteren Aggressionen abhalten, mit welchen Zugeständnissen es möglich wäre, Russland an den Verhandlungstisch zu kriegen und wie die Ukraine gegebenenfalls überzeugt werden kann, mit ihrem Territorium die Aggression Russlands zu belohnen.

Dann wäre freilich immer noch offen, wann Russland das nächste Mal seine Armee marschieren lässt und mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen wird – vielleicht, wenn die russische Bevölkerung des Baltikums von den estnischen, lettischen und litauischen Nazis befreit werden muss und ein Landkorridor nach Kaliningrad geschaffen werden soll?

Ich habe keine abschließende Antwort auf diese Fragen. Ich weiß aber, dass sie gelöst werden müssen und wir dürfen nicht so tun, als wäre das nicht der Fall. Wir müssen darüber diskutieren und dürfen dabei nicht zu früh mit unserem Nachdenken über mögliche Folgen unseres Handelns aufhören.

Leipzig, 22.02.2023 Bernd Friedrich

Warum wir den Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer nicht unterschrieben haben

Zwei sonst eher politisch nicht kompatible Politikerinnen haben einen Aufruf verfasst, der unter der Überschrift “Manifest für den Frieden” firmiert und so mit einem hohen Anspruch in die mediale Öffentlichkeit drängt. Auf den ersten Blick formuliert er scheinbar emphatisch Positionen die für viele ansprechend und unterstützenswert scheinen. Aber wie immer lohnt ein zweiter Blick.

https://extradienst.net/2023/02/14/warum-wir-den-aufruf-2/

Roland Appel, Dieter Hummel

Leserbrief

Manches lädt mich ein, das „Manifest für Frieden“ zu unterzeichnen. An erster Stelle steht die Gewissheit, dass ein Atomkrieg verheerende Folgen haben würde, den Tod der Menschen, die ich liebe, eingeschlossen. Aber auch das Leid der Menschen, die im Krieg Russlands gegen die Ukraine sterben oder verletzt werden, möchte ich sofort beenden, wenn ich es denn könnte.

Ich habe immer in der Hoffnung gelebt, dass der Krieg, diese Geißel der Menschheit besiegt werden kann und in den vergangenen Jahrzehnten gab es einige ermutigende Zeichen dafür, dass es möglich ist: Das Ende des Vietnamkrieges mit der großen militärischen Niederlage der USA und das Ende der sowjetischen Intervention in Afghanistan sind Beispiele. Die Trennung von Tschechien und der Slowakei waren ein Zeichen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung und die Unverletzlichkeit der Grenzen kein Widerspruch sein müssen. Für all das gibt es freilich eine Voraussetzung: Kein Staat darf sich das Territorium eines anderen Staates aneignen oder das Ziel haben, dies tun zu wollen.

Ich habe mir den Text des Manifestes aufmerksam durchgelesen und bin bald auf Ungereimtheiten, Widersprüche, Auslassungen und übergreifendes Nicht-zu-Ende-Denken gestoßen, was die Absicht der meisten Unterzeichner:innen, damit dem Frieden in diesem geschundenen Land näherzukommen, vollkommen unrealistisch erscheinen lässt. Insbesondere bei Sahra Wagenknecht vermute ich allerdings bloßes politisches Kalkül hinter ihrem Engagement. Dass ein Nazi wie Tino Chrupalla dieses Manifest ebenfalls unterschrieben hat, lässt mich zusätzlich skeptisch werden. Ich halte es mit dem Grundsatz: „Wenn Nazis an meiner Seite gehen, bin ich auf dem falschen Weg.“

Diese Befürchtung will ich überprüfen und deshalb werde ich den Originaltext mal der Reihe nach durchgehen:

„Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine. Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.“

Was fehlt in dieser Auflistung? Der Verursacher des Ganzen. Haben Ukrainer Frauen in Russland vergewaltigt, russische Kinder verängstigt oder das ganze russische Volk traumatisiert? Hat die Ukraine ihr eigenes Land entvölkert und zerstört? So formuliert, erscheint der von Russland entfesselte Krieg als eine Art Naturgewalt.

Logisch ist freilich, dass wir vor seiner Ausweitung Angst haben – denn dafür gibt es gute Gründe. Die werden allerdings erstmal ebenfalls nicht benannt.

„Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges? Die deutsche Außenministerin sprach jüngst davon, dass „wir“ einen „Krieg gegen Russland“ führen. Im Ernst?“

Hier werden drei Dinge miteinander vermengt, die einzeln bewertet werden müssen. Erstens: Um an die Meinung der Menschen anzudocken, die Aggressionen verurteilen, wird nun die Tatsache benannt, dass die ukrainische Bevölkerung brutal von Russland überfallen wurde und dass sie unsere Solidarität braucht. Was aber „unsere Solidarität“ ist, wollen wir bestimmen – die Meinung der ukrainischen Bevölkerung dazu wird hier nicht erwähnt. Wir haben freilich eine: „Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden?“ Mit diesem Satz wird ein neuer Rahmen gesetzt: Hier geht es nun nicht mehr darum, dass die ukrainische Bevölkerung von Russland brutal überfallen wurde, sondern um ein abstraktes Kampfgeschehen, das seltsamerweise auf dem Schlachtfeld Ukraine stattfindet. Und das Opfer ist mindestens genauso schuldig wie der Aggressor: Es brauchte sich ja nur zu unterwerfen und schon könnten alle wieder in Frieden leben…

Dann kommt die entscheidende, absolut wichtige Frage: „Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges?“ Genau diese Frage wird aber nicht beantwortet. Oder doch: Sie wird in eine bestimmte Richtung gelenkt und zwar in die des Freudschen Versprechers von Annalena Baerbock, dessen Intention unbedingt kritikwürdig ist. Was aber fehlt? Die Darstellung und die Kritik an den Kriegszielen der russischen Regierung! Sie bestehen ganz offensichtlich darin, die Ukraine heim ins russische Reich zu holen, aber das machen die Autorinnen nicht zum Thema.

Dafür wird Wolodymyr Seljenskyj in den Mittelpunkt gerückt: „Präsident Selenskyj macht aus seinem Ziel kein Geheimnis. Nach den zugesagten Panzern fordert er jetzt auch Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – um Russland auf ganzer Linie zu besiegen? Noch versichert der deutsche Kanzler, er wolle weder Kampfjets noch „Bodentruppen“ senden. Doch wie viele „rote Linien“ wurden in den letzten Monaten schon überschritten?“

Hier wird der drängend vorgetragene Wunsch der Ukraine nach mehr und stärkeren Waffen plötzlich als „Ziel“ benannt. Nun ging es ja aber vorher um „das Ziel dieses Krieges“ und damit findet hier zunächst eine nicht leicht zu bemerkende Bedeutungsübertragung statt (das Kriegsziel der Ukraine wäre es, möglichst viele schwere Waffen zu besitzen) und dann wird als rhetorische Frage nachgeschoben: „… um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?“. Ich kenne nur ein Kriegsziel der Ukraine, nämlich ihre territoriale Integrität wiederherzustellen. Das wird von den Autorinnen des Textes aber ausdrücklich nicht erwähnt – denn dann könnte es ja sein, dass dessen Leser dieses Ziel für berechtigt halten könnten. Die Unbestimmtheit dieser Formulierung hat aus meiner Sicht den Subtext: Die Ukrainer (die NATO, die USA) wollen Russland insgesamt in ihre Gewalt bringen…

„Es ist zu befürchten, dass Putin spätestens bei einem Angriff auf die Krim zu einem maximalen Gegenschlag ausholt. Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg? Es wäre nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat. Aber es wäre vielleicht der Letzte.“ Das ist gut möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Und es ist eine entsetzliche Vorstellung. Aber nüchtern betrachtet, so schwer das auch fällt: Was fehlt hier? Die Verurteilung Wladimir Putins und der russischen Regierung für diese Absicht.

Was dann folgt, wird quasi als Naturereignis geschildert – und auf einmal wäre das Land daran schuld, das einen Teil seines Territoriums von einem Aggressor befreien will? Aber davon sprechen die Autorinnen ja gar nicht, sie fabulieren einen „Angriff“ auf die Krim – so, als wäre sie ein Teil Russlands…

„Die Ukraine kann zwar – unterstützt durch den Westen – einzelne Schlachten gewinnen. Aber sie kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen. Das sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!“

Übertragen wir diese Formulierungen mal auf eine vergleichbare historische Situation: „Nordvietnam kann zwar – unterstützt durch die Sowjetunion und das sozialistische Lager – einzelne Schlachten gewinnen. Aber es kann gegen die größte Atommacht der Welt keinen Krieg gewinnen.“ So hätte eine Analyse – sagen wir im Jahr 1967 – vermutlich ausgesehen und sie wäre plausibel gewesen. Nach militärischen Erfolgen Nordvietnams und der Unterstützung seines Kampfes in weiten Teilen der Welt kam es aber dann ab 1969 zu Friedensverhandlungen in Paris, die 1973 erfolgreich beendet wurden.

Hat eigentlich damals die Friedensbewegung von der Sowjetunion und China gefordert, an Nordvietnam keine Waffen mehr zu liefern und zwar mit den Worten „Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Vietnam gekämpft und gestorben werden?“ Ich kann mich nicht erinnern.

Nun zitieren die Autorinnen aber noch einen Kronzeugen: Dass die Ukraine gegen die stärkste Atommacht der Welt nicht gewinnen könne, „sagt auch der höchste Militär der USA, General Milley. Er spricht von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann. Warum dann nicht jetzt? Sofort!“

Schauen wir mal, was er wirklich gesagt hat: „Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges – definiert als der Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim – ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch“ Und das ZDF setzt fort: „Wahrscheinlicher sei nach Ansicht von Milley eine politische Lösung. Russland liege „im Moment auf dem Rücken“, sagte der General. Die Ukraine müsse aus einer Position der Stärke heraus mit Russland Gespräche führen können. … Unabhängig davon erklärten US-General Milley und Verteidigungsminister Austin, die USA würden der Ukraine bei der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg weiterhin helfen – „so lange wie nötig.“ General Milley sagte: „Die Ukraine wird weiter bestehen. Die Ukraine wird nicht nachgeben“. Weiter sagte er, dass die Ukraine frei sei, „und sie [die Menschen in der Ukraine] wollen frei bleiben.“ (Quelle: ZDF Online, 17.11.2022)

Egal, was man nun von dieser Auffassung halten mag: Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zitieren falsch und zwar in demagogischer Absicht: Sogar der höchste Militär der USA ist für Verhandlungen – das soll bei der Leserin, beim Leser hängenbleiben.

„Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!“

Diese Auffassung ist sicher richtig. Aber an wen ist sie adressiert? Müsste sie nicht zuerst an den Aggressor gerichtet werden? Darum aber schummeln sich die Autorinnen mit einem scheinbaren Vernunftargument herum:

„Wir Bürgerinnen und Bürger Deutschlands können nicht direkt auf Amerika und Russland oder auf unsere europäischen Nachbarn einwirken. Doch wir können und müssen unsere Regierung und den Kanzler in die Pflicht nehmen und ihn an seinen Schwur erinnern: „Schaden vom deutschen Volk wenden“.

Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem dritten Weltkrieg näher. (Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht)“

Hier bleibt ein Begriff unbestimmt: „die Eskalation der Waffenlieferungen“. Heißt das, in bisherigem Maße können sie fortgesetzt werden? Dass werden manche denken und sich sagen: Das kann ich unterschreiben. Andere entnehmen diesem Satz, dass bereits jegliche Waffenlieferungen eine Eskalation darstellen, sind gegen alle Waffenlieferungen und unterschreiben deshalb diese Forderung. Merke: Mit unbestimmten Formulierungen bekommst du Leute mit durchaus unterschiedlichen Motiven dazu, deine Forderungen gleichermaßen zu unterstützen. Das mag man geschickt nennen oder raffiniert – ich nenne es unredlich.

Aber egal: Hauptsache, Olaf Scholz stellt sich an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen. Ok – wo könnte er die finden? Seltsamerweise existiert sie bisher gar nicht. Na gut, aber nun ist das ja geklärt: Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer haben sie gegründet und das wird jetzt was – kannste glauben. Und wenn sich dann Olaf Scholz an ihre Spitze gestellt hat, wird Frieden in der Ukraine.

Soviel zur Realisierbarkeit der Aktion. Völlig außer dem Blick bleibt, welche Wirkung das auf Wladimir Putin haben wird: Im besten Fall lacht er sich darüber tot. Im schlechtesten wird er, um seine Kriegsziele durchzusetzen, tatsächlich als erster Atomwaffen einsetzen. Die Ukraine kann das nicht: Sie hat auf den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Ob Russland die Ukraine angegriffen hätte, wenn sie noch Atommacht wäre?

Aber das ist leider oder Gott sei Dank eine bloße Spekulation. Die offene Frage ist freilich: Wie kann der Erpressung der übrigen Welt durch die Atommacht Russland Einhalt geboten werden? Durch Unterwerfung? Durch Ignorieren? Durch eine Aktion, die Russland tatsächlich an den Verhandlungstisch zwingt? Wer hier eine praktikable Antwort findet, verdient den Friedensnobelpreis und ich bin kein möglicher Kandidat dafür. Was aber gar nicht geht ist, eine Erpressung nicht als solche zu bezeichnen und eine Unterwerfung unter einen Despoten nicht als eine Unterwerfung.

In seiner Kantate auf die Hinrichtung von Koloman Wallisch schrieb Bertolt Brecht:

„Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt

Und lässt andere kämpfen für seine Sache

Der muss sich vorsehen; denn

Wer den Kampf nicht geteilt hat

Der wird teilen die Niederlage.

Nicht einmal den Kampf vermeidet

Wer den Kampf vermeiden will; denn

Es wird kämpfen für die Sache des Feinds

Wer für seine Sache nicht gekämpft hat.“

Wir sollten alle über diese Worte nachdenken.

Jegliche ernstzunehmende Unternehmung mit dem Ziel einer Beendigung der russischen Aggression muss an den Aggressor gerichtet sein – nicht an das Opfer oder die Unterstützer des Opfers. Alles andere ist populistischer Unfug. Leider sind schon eine Menge Leute, die ich schätze, auf die Demagogie der Autorinnen hereingefallen.

Was kann stattdessen wirklich getan werden? Erinnern wir uns an die Zeit des Vietnamkrieges:

Unterstützen wir das Opfer der imperialistischen Aggression Russlands wie damals Nordvietnam mit allem, was es zur Befreiung seines Territoriums braucht.

Unterstützen wir umfassende Sanktionen ohne Hintertüren (z.B. die Lieferung kriegswichtiger Technik an Russland über die Türkei), um den Krieg für Russland teurer als Friedensverhandlungen zu machen. Fordern wir, dass die Lasten dieser Sanktionen in unserem Land sozial gerecht verteilt werden.

Nutzen wir vorhandene Kontakte zu Freunden und Bekannten in Russland, um über den realen Verlauf des Krieges und sein Hauptziel – die Annexion der Ukraine – zu berichten.

Unterstützen wir alle Kräfte in Russland, die sich in Worten oder Taten gegen den Krieg des russischen militärisch-industriellen Komplexes gegen ein unabhängiges Nachbarland wenden.

Unser Ziel muss sein, dass von russischem Boden niemals wieder ein Krieg ausgeht – und auch nicht vom Boden irgendeines anderen Landes. Das schließt freilich aus, dass ein Aggressor seinen Krieg siegreich beendet.

Dafür sollten alle, die das ermöglichen können, am 25.02.2023 vor dem Brandenburger Tor demonstrieren.

Leipzig, 12.02.2023                                         Bernd Friedrich